andreas.schaertl

Die Abstiegsgesellschaft: Sozialer Abstieg

life

In “Die Abstiegsgesellschaft” (2016) legt Oliver Nachtwey die Idee einer “regressiven Moderne” dar, einer vielleicht progressiv wirkenden Entwicklung in der aber zuvor erreichte soziale Standards von Integration und Aufstieg wieder umgekehrt werden. Eine Folge davon ist eine “erneuerte Klassengesellschaft”, welche die deutsche Bevölkerung in Ober-, Mittel- und Unterklasse unterteilt. Während die Oberklasse ihrer Position recht sicher sein kann und von Steigerungen in der Arbeitsproduktivität profitiert, kommt es in der Mittelklasse zunehmend zu Abstiegsängsten. Aus der Unterklasse ist Aufstieg kaum noch möglich, selbst Vollarbeitszeitverhältnisse sind oft prekär und für die Betroffenen nicht zukunftsgerichtet. Schlussendlich stellt sich die Frage, wie sich eine solche Gesellschaft zukünftig entwickelt, also wie in der Gegenwart einer derartigen Ungleichheit gesellschaftliches Zusammenleben möglich sein soll.

Der hier vorliegende Text basiert vollständig auf “Die Abstiegsgesellschaft” von Oliver Nachtwey und ist ausschließlich als unabhängig von Autor und Verlag verfasste Zusammenfassung zu verstehen.

Regressive Klassengesellschaft

Die von Marx beschriebene dichotome Klassengesellschaft von Arbeiterklasse einerseits und Kapitalistenklasse andererseits scheinen wir hinter uns gelassen zu haben. Auch wenn es niemals Momente wirklicher Gleichheit gegeben hat, so sahen viele Forscher in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, der Fokus liegt hier ganz klar auf (West-)Deutschland, doch einen “Fahrstuhleffekt”, bei dem es für alle Menschen nach oben ging. Das eliminiert ökonomische Ungleichheit zwar nicht im Kern, bietet aber Hoffnung auf eine bessere Zukunft und macht sie damit ertragbar und hinnehmbar.

In diesem Fahrstuhl des ständigen Aufstiegs, so Nachtwey, haben jetzt jedoch nicht mehr alle Menschen Platz. Um die heutige Zeit zu beschreiben bemüht er das Bild einer Rolltreppe, die für manche in höhere Stockwerke führt, für manche jedoch nur in den Keller. Er sieht eine neue Zerteilung der Gesellschaft in Klassenstrukturen für die es eben nicht mehr die eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, sondern klassenabhängige Zukunftsaussichten gibt. Diese Klassenstrukturen sind heterogener als die von Marx vorgeschlagene Aufteilung, denn zusätzlich zu vertikaler (finanzieller, ökonomischer) Ungleichheit kommt noch die Komponente horizontaler Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Ethnie und so weiter. Trotzdem: Nachtwey teilt eben in diese drei Klassen mit spezifischen Aussichten und Verhalten aus. Er sieht eine Regression in eine wieder stärkere Segregation der Gesellschaft. Diese drei Klassen sollen jetzt skizziert werden.

Ober-, Mittel- und Unterklasse

Die Oberklasse steht über Mittel- und Unterklasse und gruppiert die ökonomisch abgesicherten und wohlhabenden. Freilich enthält sie die oft zitierten “1 Prozent”, doch das allein wäre zu klein gefasst. Wir reden hier auch über erfolgreiche Akademiker, Ingenieure und Fachleute, allgemein jene die aufgrund Qualifikation oder Stellung in einer vorteilhaften Verhandlungsposition gegenüber ihren Arbeitgebern stehen. Das entscheidende Merkmal dieser Oberklasse aber ist die dort herrschende Stabilität. Wer einmal oben ist, bleibt auch oben, denn es ist hauptsächlich die Oberklasse die im Gegensatz zu Mittel- und Unterklasse tatsächlich von der allgemein steigenden Arbeitsproduktivität profitiert. Während in den unteren Klassen die Entlohnungen stagnieren, steigen sie für die Oberklasse, eine Entwicklung welche diese Aufteilung in Klassen nur zementiert. Bildungsbürgerliche Attitüde, die man in der Oberklasse den Kindern von Anfang mitgibt, tut ihr übriges, der Zugang zur akademischen Bildung wir erleichtert.

Die Mittelklasse nun ist vielleicht die wichtigste, zumindest versteht sich Deutschland in eigener Wahrnehmung durchaus als Gesellschaft der Mittelschicht. Wichtig im großen Bild der Abstiegsgesellschaft ist die in der Mittelklasse angesiedelte Tendenz, den eigenen Lebenslauf zu individualisieren. Beruflicher und gesellschaftlicher Erfolg wird als hauptsächlich eigene Aufgabe und Leistung verstanden, Unterstützung durch sozialstaatliche Umverteilung wird übersehen. Mitschuld an dieser Entwicklung hat auch die Zersplitterung von industrieller Produktion in viele kleine Teilunternehmen und Dienstleister (der “industriellen Dienstleistungsgesellschaft”), was gewerkschaftliche Organisation atomisiert und damit behindert. Man will sich nicht als “Arbeiter” verstehen, sondern als Individuum. Kompetitives Verhalten am Arbeitsplatz und gewissermaßen eine “neue Spießigkeit” in Form von normativen Druck zu alten Tugenden wie Ordnung und Fleiß sind die Folge. Wirklicher Aufstieg (Richtung Oberklasse) jedoch ist schwierig, denn selbst wenn am beruflichen Titel Prestige hängt, manifestiert sich das nicht zwingend in Form von Entlohnung und Stabilität. So manche Ingenieure hangeln sich nur von Projekt zu Projekt, Lehrer werden zunehmend weniger beamtet und vom akademischen Prekariat ganz zu schweigen. Auch wenn die Menschen in der Mittelklasse nicht zwingend absteigen, sie befinden sich auf einer Rolltreppe nach unten, gegen die sie unter Anstrengungen ständig ankämpfen müssen.

Schlussendlich bleibt nun noch die Unterklasse übrig. Hier finden sich zunehmend neben den Erwerbslosen, die von Sozialhilfe leben müssen, auch Menschen die einer Arbeit nachgehen. Während die Oberklasse in der industriellen Dienstleistungsgesellschaft als gut bezahlte Spezialisten Erfolg hat, sieht sich die Unterklasse mit der anderen Seite der Medaille konfrontiert. Typische Beschäftigungsfelder sind Gastronomie, Raumpflege und Paketversand. Allesamt Branchen, in denen atypische Arbeitsverhältnisse (also befristete oder verkürzte Arbeitsverhältnisse) üblicher als sonst sind. Nachtwey bezeichnet diese als “prekär”, er unterstreicht die damit einhergehende Unsicherheit und Widerrufbarkeit (aufgrund mangelndem Kündigungsschutz). Zwar gibt es auch in oberen Schichten zunehmend atypische und damit prekäre Beschäftigungsverhältnisse, am ausgeprägtesten sind sie jedoch hier in der Unterklasse. Die Folge in der Unterklasse ist Resignation, ein Aufstieg erscheint unerreichbar.

Folgen?

Wenn man an Marx und seine Klassengesellschaft denkt, drängt sich auch gleich der Gedanke an Klassenkämpfen auf. Es darf sich also die Frage stellen, wie eine Gesellschaft, die sich wieder in Klassen geteilt sieht, auf diese Teilung reagiert. Wünscht man sich eine fairere Verteilung von durch gestiegener Arbeitsproduktivität erreichten Mehrwerts, so müssen sich wohl verschiedene Klassen gemeinsam dafür einsetzen. Das ist aber in einer individualisierten industriellen Dienstleistungsgesellschaft schwierig: Die gut bezahlten Angestellten aus der Oberschicht haben ganz nüchtern marktwirtschaftlich betrachtet nichts von einer Besserstellung der unteren Klassen. Den unteren Klassen, jene die in marktwirtschaftlich weniger profitablen Sektoren der industriellen Dienstleistungsgesellschaft tätig sind, fehlt es vielleicht an ausreichenden Druckmitteln. Sich alleine für ihre Lage einzusetzen ist auch ganz pragmatisch ein Problem, da sie in prekären Arbeitsverhältnissen mit ganz persönlicher Unsicherheit zu kämpfen haben. Die Frage ist auf jeden Fall spannend.